Auszug aus meinem Buch Storytelling

Zu den wichtigsten Prinzipien unseres Gehirns gehört, dass es typische Muster speichert und bei Bedarf darauf zugreift – dies geht schnell und kostet das Gehirn wenig Energie. Wir verfügen sogar eigens über Gehirnbereiche, die diese typischen Wissensbestände verarbeiten. Sie können sich Muster als Fertigbauteile vorstellen. Fachleute nannten sie früher Vorurteile, doch weil der Begriff einen eher negativen Beigeschmack hat, sprechen sie heute überwiegend von Muster, Stereotype oder Schema. Sie ermöglichen uns, in Sekundenschnelle ein neues Unternehmen, aber auch Menschen und Marken zu bewerten.

Muster sind deshalb so wichtig, weil sie unserem Gehirn die Arbeit enorm erleichtern: Wir müssen nicht alles neu lernen, sondern wir lernen Muster, mit denen wir schnell und unbewusst neue Unternehmen vergleichen, von denen wir hören: Stammt es aus der Pharmaindustrie, der Mineralölbranche, der Pelzindustrie, der Computerindustrie oder ist es ein Wohlfahrtsunternehmen? Wird ein Unternehmen als »Heuschrecke« bezeichnet, löst dies bei vielen Menschen Unsicherheit und Angst aus. Manager werden als »Nieten in Nadelstreifen« bezeichnet, auch die Bezeichnung »Steuerflüchtling« kann spontan unbewusste Assoziationen und Gefühle auslösen. Diese Beispiele zeigen, wie stark Muster mit Stimmungen und Emotionen verbunden sind.

Muster und Neulernen

Neues scheinen wir vor allem danach zu bewerten, ob es einem Muster entspricht, ob und wie stark es von diesem abweicht. Standardisierung ist ein Prinzip des Gehirns (Wilson, 2007). Zu den Mustern von Menschen gehören standardisierte Vorstellungen, etwa dass Manager einen dunklen Anzug tragen. Würde ein neuer Chef den Raum betreten und wäre mit T-Shirt und Sandalen bekleidet, könnte uns diese Abweichung irritieren oder überraschen, wie der Chef des Pharmaherstellers Sanofi-Aventis, Gerard LeFur, der eine Harley Davidson fährt und eine Lederjacke trägt. Diese Abweichung macht ihn auch für die Massenmedien interessant, die diese Abweichung von der Norm gern in ihrer Berichterstattung aufgreifen. Ein Muster wäre, wenn wir erfahren, der Firmenchef sei ein Wohltäter oder ein autoritärer Herrscher eines Imperiums.

Muster enthalten Schlüsselinformationen, die wir darauf prüfen, ob wir schon Erfahrungen damit gemacht haben und was wir erwarten können: Gefahr oder Wohlbefinden (s. Kap. 2.3). Für das Storytelling sind zum Beispiel Archetypen, Mythen, symbolische Handlungen und Rollen wichtig:

  • Archetypen: zum Beispiel der Weise, der Held, die Fee, der rettende Engel. Solche Archetypen können Sie den Grundmotiven des Menschen zuordnen (s. Kap. 2.4): In der Dominanz ist es der weiße Mann, in der Sicherheit die fürsorgliche Mutter, in der Erregung der Hofnarr, den in unserer Zeit Thomas Gottschalck perfekt verkörpert. Der Begriff in der Tiefenpsychologie geht zurück auf Carl G. Jung (1991, 2005), der damit jene im kollektiven Unbewussten angesiedelten Urbilder menschlicher Vorstellungsmuster bezeichnete.
  • Mythen als Urgeschichten: zum Beispiel der Kampf von David gegen Goliath, den Richard Branson erzählt, wenn er mit seiner Virgin Airlines gegen den Branchenführer British Airways kämpft. Die Geschichte von Robin Hood, der für Schwache und Arme eintritt, ist auch bei Anita Roddick zu finden, die bei den Produkten ihres »Body Shop« auf Tierversuche verzichtet hat. Phönix aus der Asche ist die Geschichte vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan, die vom Frosch, der zum Prinzen wird. Diese Geschichte finden wir bei Dale Carnegie, der in seinen Büchern erzählt, wie er sich vom schüchternen Jungen zum wortgewandten Redner entwickelt hat. Einen Mythos finden wir in der Form des amerikanischen Traums: vom Tellerwäscher zum Millionär; wir finden ihn in der Geschichte des Weltunternehmens Microsoft, dessen phänomenalen Triumphzug Bill Gates in einer Garage startete.
  • Rollen helfen uns, Personen und deren Handeln in Geschichten zu verstehen: Es gibt den Freund, den Berater, den Kumpel, den Partner, den Entdecker, den Erfinder, den Eroberer. Zum Beispiel spielt Ed Koch in seiner Zeit als Bürgermeister von New York die Rolle des Retters, der die Stadt von Kriminalität befreit. Karlheinz Böhm ist der Helfer in Äthiopien. Utz Claassen, Ex-EnBW-Chef, ist der knallharte Sanierer. Eine Rolle wäre die des Siegers, der es – verbunden mit einem Mythos – aus kleinen Anfängen zu großem Erfolg gebracht hat. Richard Branson, Chef von über 200 Unternehmen, ist der Kumpel. In seiner Biografie erfährt der Leser, wie er sich von einer kleinen Wohnung mit Matratze zum Milliardär hochgearbeitet hat, ohne seine Bodenständigkeit zu verlieren. Branson ist beliebt wie kaum ein anderer milliardenschwerer Firmenboss. Reiner Neumann und Alexander Ross haben folgende typische Rollen für Führungskräfte aufgeführt (Neumann/Ross, 2004):
    • der Trendsetter, der jetzt schon nutzt, was noch keiner hat;
    • der Senior, der schon alles erlebt und viele Geschichten zu erzählen hat;
    • der Querdenker, der stets eine ungewöhnliche Sichtweise beisteuert;
    • der Menschelnde, der in Worte fassen kann, was alle fühlen und denken;
    • der Nachdenkliche, der die Folgen stets eher im Blick hat als andere;
    • der Netzwerker, der alle und jeden kennt und daher weiß, was abläuft.
  • Skripte und symbolische Handlungen: Muster beziehen sich nicht nur auf statische Konstellationen, sondern auch auf Ereignisse, Skript genannt. Damit ist ein Verhaltensablauf gemeint, der allgemein bekannt ist, wie das Zerschneiden eines Bandes zur Eröffnung, die Grundsteinlegung, das Vorstellungsgespräch oder eine typische Mitarbeiterversammlung. Solche Skripts laufen fast automatisch ab und beeinflussen unser Erleben. Sie geben uns Orientierung andere Menschen gegenüber und in den Erwartungen an unser eigenes Verhalten. Symbolische Handlungen sind solche, die weit über die eigentliche Handlung hinaus eine kulturell geprägte Bedeutung in sich tragen, wie zum Beispiel die Blutsbrüderschaft, die rote Karte im Fußballspiel, die Grabrede und sogar das Abendmahl.

Zu den Mustern von Handlungen gehören auch Riten, also dem feierlichen, schematischen, symbolischen Brauch. Jeder Ritus stellt für sich eine Kulthandlung dar, eine allgemein verbreitete Gewohnheit, eine durch ständiges Wiederholen selbstverständlich gewordene Handlung oder Eigenheit. Symbole und Rituale fungieren als »Steuerzeichen unserer Kultur«. Sie bilden Verständigungscodes, als unbewusste Bedeutungen, die wir einer Sache beimessen: Symbole sind Bedeutungscodes, Rituale sind Handlungscodes. Die amerikanische Psychotherapeutin Therese Rando (1984) definiert ein Ritual als ein Verhalten oder eine Handlung, die bestimmten Gefühlen und Gedanken des Vollziehenden als Einzelner oder als Gruppe symbolischen Ausdruck verleiht. Rituale können einmal stattfinden, wie die Einstellung im Unternehmen, aber sich auch wiederholen (zum Beispiel die jährliche Jubilarfeier) oder über eine gewisse Zeit fortlaufend vollziehen. Zum Beispiel kann es für das Unternehmen wichtig sein, Siege ritualisiert zu feiern. Für Veränderungen kann es essenziell sein, sich von Ritualen zu verabschieden und neue Riten an deren Stelle treten zu lassen. Sie können daher solche Rituale in Ihre Geschichte einbauen und hierdurch sehr stark auf das Denken und Handeln der Beschäftigten wirken.

Abweichen von der Norm

Muster sind wichtig für das schnelle Einordnen von Informationen. Entspricht das Muster aber komplett dem Gelernten, kann dies uninteressant sein. Maximale Wirkung erzielen Geschichten, die dem MAYA-Prinzip folgen: Most-Advanced-Yet-Acceptable (zu Deutsch etwa: am stärksten entwickelt, am wenigsten akzeptiert). Was bedeutet dies? Menschen sind offen für Neues, solange es an Bekanntes anknüpft. Gute Geschichten sollten daher möglichst neuartig gestaltet sein, aber nicht über die MAYA-Schwelle hinausgehen. Hierzu noch einmal das Beispiel von Gerard LeFur. Die Welt schrieb am 3. Januar 2007:

»Der Kontrast zwischen dem 56-Jährigen und seinem Vorgänger Jean-François Dehecq könnte nicht größer sein. So gilt der fast zwei Meter große Dehecq mit seinen eleganten Anzügen als charismatischer, extrovertierter Strippenzieher, der klein gewachsene Le Fur mit seinen schwarzen Hemden mit offenem Kragen dagegen als zurückhaltend und unkonventionell. So rauscht der Rock-n-Roll-Fan auch schon mal auf einer Harley Davidson in Ledermontur zu internen Firmenfeiern an.«

Ich empfehle daher für das Storytelling, an die von den Bezugsgruppen gelernten Muster anzuknüpfen, aber von diesen leicht abzuweichen – schaffen Sie Neues und erinnern dabei an Altes. Wenn Sie also Journalisten ein Thema anbieten, das diesen grundsätzlich bekannt vorkommt, aber etwas vom Bekannten und Erwarteten abweicht, dann haben Sie beste Chancen, den Journalisten für Ihr Thema zu interessieren. Ein Beispiel aus der internen Kommunikation: Wenn ein Auszubildender das Band für das neue Gebäude zerschneidet und nicht der Firmenchef, wird dies mehr Aufmerksamkeit erzeugen und Interesse wecken.