Eigentlich sollten wir Menschen auf Bildern einfach nur anschauen, unseren Verstand ausschalten und fühlen, was sie mit uns tun. Wir sollten die Menschen auf den Bildern betrachten und das Gefühl wirken lassen, das sie in uns auslösen. Wir schauen auf das Gesicht, unser Blick gleitet den Körper entlang. Wir spüren die Sinnlichkeit und fühlen, wie sie uns bewegen. Wollen wir wissen, warum sie so stark auf uns wirken, können wir uns dies nicht fragen, denn die Wirkung seiner Bilder ist unserem Bewusstsein weitgehend verschlossen. Fragen wir daher die Wissenschaft, was in unserem Gehirn geschieht, während wir Bilder erkunden. Warum also treffen sie uns ins Herz?

Der erste Grund ist: Nichts interessiert uns als soziale Wesen im Leben so sehr wie andere Menschen. Sie zeigen uns, wie wir schlechte Gefühle meiden und zu  guten Gefühlen gelangen können. Wie wichtig andere Menschen für uns sind, zeigt sich allein darin, dass eigene Areale in unserem Gehirn spezialisiert sind, Menschen und Gesichter zu erkennen und zu bewerten. Menschen sind der Stimmungsmacher auf Bildern schlechthin. Nach der Größe des Bildes sind sie der stärkste Wirkfaktor. Auf Bildern fallen uns deshalb die Menschen zuerst auf und sie beschäftigen uns besonders lange.

Für die erste Reaktion auf Bilder reicht die Zeit eines Wimpernschlages aus: Schon in den ersten 200 Millisekunden unseres Kontaktes prüft unser Gehirn, ob wir das Bild und den Menschen angenehm oder unangenehm finden, ob wir das Bild meiden oder uns weiter damit beschäftigen.

Diese Prüfung erledigt unser Unbewusstes. Es hat die Aufgabe, unsere Umwelt nach einfachen Mustern ständig daraufhin zu prüfen, ob es bedeutende Reize gibt. Ist der Reiz interessant oder uninteressant? Ist er bedrohlich oder sympathisch?

Um dies möglichst schnell herauszufinden, blicken wir beim Menschen als erstes dorthin, wo wir die meisten Informationen erwarten: auf Augen und Mund. Aus ihnen schließen wir auf die Stimmung der Person. Augen und Mund als Spiegel unserer Seele. Der Körper als Bühne der Gefühle.

Auf ein bedrohliches Gesicht reagieren wir nach nur 14 Millisekunden – zu kurz, um das Gesicht bewusst wahrzunehmen. Attraktivität können wir schon in 13 Millisekunden beurteilen. Am schnellsten kann unser Gehirn einschätzen, ob wir einer Person vertrauen oder nicht.

Bevor wir also wissen, was wir auf dem Bild sehen, fühlen wir, ob wir es mögen oder nicht. Bewusst wäre dies nicht möglich. Wir entscheiden aus dem Bauch heraus, wie wir umgangssprachlich sagen. Unser Gehirn bestimmt unbewusst die Gefühle, die mit den Menschen verbunden sind, bevor es weiß, was es auf dem Bild sieht.

Hat das Bild diese erste Prüfung seiner Anmutung bestanden, beginnt unser Gehirn damit, den Bildinhalt zu verarbeiten – dies geschieht nach 200 bis 500 Millisekunden. Wir orientieren uns grob auf dem Bild, schauen erst einmal flüchtig hin, machen uns einen ersten Eindruck. Nach etwa 1 Sekunde können wir angeben, das Wichtigste auf dem Bild erkannt zu haben. Wir können erneut entscheiden, ob wir uns dem Bild noch stärker zuwenden oder anderswohin schauen. Das aufmerksame Beschäftigen mit dem Bild steht somit am Ende einer Reihe komplizierter Prozesse des Erkennen, Deutens und Bewertens.

Was uns auf dem Bild aufmerksam werden lässt, hängt zum einen mit unserer Persönlichkeit zusammen, zum anderen mit unserer momentanen Verfassung: Sind wir glücklich, wenden wir uns eher Bildern zu, auf denen der Mensch ebenfalls glücklich ist.

Menschen auf Bildern können wir nicht mit einem einzigen Blick von oben bis unten erfassen; stattdessen müssen wir uns die Person „erarbeiten“: Unser Blick weilt zuerst auf einem wichtigen Punkt, er fixiert ihn. Er springt dann ruckartig und sehr schnell zum nächsten Punkt, verweilt dort wieder kurz und springt weiter. Was unser Auge tatsächlich sieht, ist aufgrund der vielen Sprünge ziemlich chaotisch, nämlich Sehfetzen, im Schnitt eine Drittelsekunde lang. Während sich unser Auge bewegt, sind wir praktisch blind. Der Grund für das Springen ist, dass unser Auge nur in der Mitte des Sehfelds scharf sieht, das ist eine Fläche, die etwa so groß ist wie eine Zwei-Euro-Münze. Jeweils 60 Grad links und rechts sehen wir unscharf. Doch dies merken wir nicht, wir glauben, dass wir alles scharf sehen; Forscher nennen dies die „große Illusion“.

Die aufgenommenen Reize setzt unser Gehirn so zusammen, dass der Eindruck eines kompletten Bildes entsteht. Über das Messen unserer Blickbewegungen könnten wir bestimmen, welche Informationen wir fixieren haben und wie wir gesprungen sind.

Wir dürfen uns das Sehen nicht allein so vorstellen, dass wir die Informationen aufnehmen, die uns die Person auf dem Bild liefert: Gleichzeitig kommen eigenes Wissen und Erfahrungen ins Spiel, mit denen wir die aufgenommenen Reize bewerten. Sehen geschieht also auf zwei Wegen: Auf dem einen Weg nimmt unser Auge jene Informationen über die Person auf – das ist der Weg vom Bild zu uns. Auf dem zweiten Weg projizieren wir unser Vorwissen, unsere Erfahrungen und unsere Erwartungen auf die Person. Dieser Weg verläuft von uns zum Bild. Der Mensch in unserem Kopf entsteht aus der Wechselwirkung beider Wege – den Signalen der Person sowie unserem Vorwissen, das wir an das Bild herantragen. So könnten wir eine Geschichte erzählen, die ihren Ursprung nicht im Bild selbst hat, sondern in unserem Kopf und unserer Lebensgeschichte.

Wie gelangt dieses Vorwissen in unseren Kopf? Ein Teil des Wissens ist angeboren, ein Teil ist gelernt. Angeboren ist unsere starke Reaktion auf Gesichter – schon das Baby weiß, wie ein Gesicht aussieht und kann es mühelos von anderen Reizen unterscheiden. Im Lauf seiner Entwicklung kommen viele gelernte Muster hinzu: So erkennen und erinnern wir Gesichter unserer eigenen Rasse viel besser als Gesichter von Menschen anderer Rassen. Anders formuliert: Was wir nicht kennen, können wir nicht sehen.

Unsere Erfahrungen helfen uns, dass wir Menschen rasend schnell bewerten können: Im Lauf unseres Lebens speichern wir alle bedeutenden Erfahrungen mit Menschen ab sowie die Gefühle, die wir dabei hatten. Mehr noch: Wir markieren diese Erinnerung mit einem Körpergefühl, „somatischen Markern“ wie sie der bekannte Hirnforscher Antonio Damasio genannt hat. Im Lauf unseres Lebens werden wir so zu Experten im Erkennen und Bewerten von Menschen und im Lesen von Gesichtern. Betrachten wir einen Menschen auf einem Bild, greifen wir auf unser Wissen, unsere Erfahrungen, die begleitenden Gefühle und die Körperreaktion zurück. Jener täuscht sich, wer glaubt, jedem neuen Menschen völlig unbefangen zu begegnen. Wir verarbeiten, interpretieren und bewerten neue Menschen auf Grundlage unserer bisherigen Erfahrungen – alles, ohne dass wir hiervon etwas bewusst mitbekommen und Auskunft darüber geben könnten.

Essenziell für das Bewerten und Speichern von Menschen auf Bildern ist, welche Gefühle sie in uns auslösen. Lassen sie uns kalt, interessieren wir uns nicht weiter für sie und wenden wir uns ab. Sprechen sie unser Gefühl an, beschäften wir uns mit ihnen. Diese Prozesse laufen im limbischen System ab, dem Sitz unserer Gefühle. Dort sitzen auch unsere Wünsche und dort fallen letztlich unsere Entscheidungen.

Welche Gefühle können Menschen in uns auslösen? Grundsätzlich leiten uns drei Kernmotive durchs Leben: Sicherheit, Erregung, Autonomie. Jedes Motivsystem hat eine positive und eine negative Seite – die gute suchen wir, die negative meiden wir. Der Mensch auf einem Bild kann also das Gefühl auslösen von

  • Sicherheit, Geborgenheit und Fürsorge oder Unsicherheit und Angst
  • Erregung, Prickeln und Stimulanz oder Langeweile
  • Dominanz, Macht und Überlegenheit  oder Unterlegenheit und Wut

Jeder Mensch ist von seinem eigenen Motivmix gesteuert, der sich im Lauf seines Lebens ändert. Mehrere Betrachter können Bilder und die Menschen auf ihnen sehr unterschiedlich bewerten – entscheidend ist, was es für die Persönlichkeit in der jeweiligen Situation bedeutet.

Das Interessante ist, dass wir nicht nur die Gefühle der Person auf dem Bild beim Betrachten einschätzen können; vielmehr simulieren wir sie, wie spiegeln sie. Diese Aufgabe erledigen spezialisierte Nervenzellen, die Spiegelneuronen, durch die wir die Gefühle der Person auf dem Porträt selbst erleben. Sehen ist erleben. Lächelt uns der Mensch auf dem Bild an, erwidern wir automatisch dieses Lächeln, ohne dass es uns bewusst sein muss. Träumen die Menschen auf den Bildern, spiegeln wir diese Stimmungen. Laufen wir an der Serie entlang, nehmen wir nach und nach die Stimmung der Serie an.

Bilder vermitteln Gefühle der gezeigten Menschen. Diese sind wiederum in der Lage, diese Gefühle in uns auszulösen. Mehr noch: Wir selbst lassen diese Gefühle, die enorme Sinnlichkeit der Bilder beim Betrachten in uns entstehen. Menschen auf Bilder sind Stimmungsmacher schlechthin. Gerade deshalb treffen sie uns so ins Herz.