Ausschnitt aus meinem Buch „Charisma ist keine Lampe“
Menschen im Arbeitsleben entstehen in unserem Kopf als Zusammenspiel von Eindrücken der Person sowie unserer Interpretation und Bewertung. Als Einheit nehmen wir Verstand, Gefühl und Körper des Anderen wahr, wenn sie uns widerspruchsfreie Eindrücke liefern. Stimmen dessen Aussehen, Sprache und Handeln nicht überein, kann dies dazu führen, dass wir diese Widersprüche wahrnehmen und irritiert sind. Wir haben kein klares Vorstellungsbild von der Person und davon, was wir ihr und ihrem Handeln zu erwarten haben. Wie wichtig jedoch das klare, das widerspruchsfreie Vorstellungsbild von einem anderen Menschen für uns ist, zeigen viele Forschungsergebnisse: Die Klarheit des Vorstellungsbildes, hierin sind sich die Forscher weitgehend einig, entscheidet maßgeblich über unser Verhalten einem Menschen gegenüber… Was bedeutet dies an dieser Stelle für unser Thema?
Viele Menschen versuchen, auf uns ‚perfekt’ zu wirken. Sie listen Stärken und Schwächen auf, die sie in ihren eigenen Augen haben ― ob sie dies tatsächlich können, ist ohnehin fraglich, weil sie nur sehr begrenzten Zugriff auf sich haben, weil sich vieles unbewusst abspielt; dann erstellen sie Programme, wie sie uns noch stärker beeindrucken können. Manche legen sich sogar unter das OP-Messer ― jede noch so kleine Unebenheit lassen sie sich entfernen und jede kleinste Falte mit Botox unterspritzen. Aber ist es wirklich entscheidend für uns, dass unser Gegenüber tadellos daherkommt? Die Antwort lautet eindeutig: nein! Menschen, die als perfekt gelten, bezahlen dies oft mit einem Außenseiterdasein, denn wer liebt schon perfekte Menschen und vor allem ― wer ist gern mit ihnen öfter zusammen?
Unsere kleinen Schwächen machen uns menschlich. Sie zeigen den anderen, dass wir zu ihnen gehören, weil wir genau so unvollkommen sind wie sie. Zu seinen kleinen Schwächen zu stehen, ist Ausdruck unserer eigenen einzigartigen Persönlichkeit ― und der vertrauen wir eher als einer ‚perfekten’, aber gekünstelt wirkenden. Die verstorbene brandenburgische Politikerin Regine Hildebrandt bleibt uns im Gedächtnis, weil sie so echt war: Sie redete zu viel und zu schnell, aber sie hatte das Herz am rechten Fleck, wie der Volksmund sagt, und dies macht sie für uns unvergesslich. Und Angela Merkel? Wer sie in Reportagen und Dokumentation aus den 1990er-Jahre sieht, entdeckt eine schüchterne, unsichere Frau, man möchte sagen: mädchenhaft. Dies soll sich bis heute geändert haben? Ich vermute: Nein. Wer darauf achtet, sieht in vielen spontanen Reaktionen noch immer die Persönlichkeit, die wir vor einigen Jahren noch wesentlich unverfälschter wahrgenommen haben. Unsere Bedenken werden auch dadurch genährt, dass wir keinen Blick hinter die Fassade der Politikerin erhalten, zum Beispiel durch authentische Berichte aus ihrem Privatleben.
Wie wichtig solche Einblicke für unsere Urteilsbildung sind, zeigen Studien, nach denen 70 Prozent hinter die Fassade eines Firmenchefs blicken wollen. Wir wissen: Der Firmenlenker spielt seine Rolle, die starken Konventionen entspricht. Dies zeigt sich schon daran, dass wir immer die gleichen Fotos von Managern sehen: Dunkler Anzug, versteinertes Gesicht, sitzend am (aufgeräumten!) Schreibtisch, Brille oder Kuli in der Hand. Wir suchen in solchen austauschbaren Inszenierungen Hinweise auf die tatsächliche einzigartige Persönlichkeit des Unternehmers, damit wir entscheiden können, ob wir ihr vertrauen oder nicht. Diese Suche nach dem authentischen Menschen ist der Grund dafür, dass in den vergangenen Jahren das Interesse an so genannten ‚Home-Stories‛ gestiegen ist, in denen wir Wirtschaftbosse und Politiker in ihrem häuslichen, privaten Umfeld erleben sollen – auch wenn diese Fotogeschichten meist dann doch inszeniert sind.
Perfektion erwarten wir von Stars aus Hollywood. Wir genießen diese und sie birgt für uns kein Risiko. Wie der Star hinter seiner Fassade tatsächlich ist, interessiert uns nicht. Der Star muss die Perfektion bedienen. Entdecken wir im Star einen durchschnittlichen Menschen, ist er für uns kein Star mehr. Anders im Wirtschaftsleben: Hier haben die Werte, Entscheidungen und Handlungen anderer Menschen eine wichtige Bedeutung für uns – vom Unternehmenschef hängt unsere berufliche Existenz ab. Dessen offen zur Schau getragene Perfektion entlarven wir. Stattdessen wollen wir wissen, wie der Mensch tatsächlich ist, um unser Handeln darauf auszurichten. Nur zu schnell tut sich bei vielen die Kluft auf zwischen der dargestellten Perfektion und der tatsächlichen Schwäche. Wir sind ent-täuscht (die Täuschung durch die Person – sei sie bewusst oder unbewusst – ist aufgedeckt). Wir wissen nicht, ob wir uns auf die Person verlassen können. Wir nehmen das Risiko als höher wahr, von ihr enttäuscht zu werden – unser Vertrauen sinkt.
Apropos: Wer kennt sie nicht, die geklonten Jungdynamiker in bundesdeutschen Unternehmen. Jung, Anzug, Auslandsstudium, unauffällig. Zwar gut zu steuern, aber schrecklich uninteressant, weil sie keine Persönlichkeit haben. Aussehen, Ansichten und Verhalten sind höchst vorhersehbar, weil sie einem Muster entsprechend. Wie langweilig! Dann schon lieber solche mit Ecken und Kanten. Sie sind oft nicht wirklich sympathisch, aber wir wissen, woran wir bei ihnen sind.
Preis der Perfektion
Und etwas vorzuspielen, ist aus vielen Gründen problematisch. Ein Grund ist, dass dies den Anderen viel Energie kostet: Der Mensch handelt meist automatisiert und ohne zu überlegen; das Gehirn versucht daher, Handlungen möglichst unbewusst ablaufen zu lassen, Bewusstsein sollte die Ausnahme bleiben, wie es Hirnforscher Gerhard Roth ausgedrückt hat (siehe Kapitel 1.4). Können Sie sich angesichts dieser Erkenntnisse vorstellen, wie viel Energie ein Mensch benötigt, ein falsches Bild von sich zu entwerfen und dauerhaft zu leben? Ganz zu schweigen davon, dass dieses Bild jederzeit in sich zusammenbrechen kann, wenn sie in eine neue, unerwartete Situation geraten. Auf Dauer werden diese Konflikte den Menschen krank machen, weil er seine wahre Persönlichkeit leugnet. Die Schweizer Psychologin Maja Storch schreibt: „Wenn man den Menschen in einer Art To-do-Liste antrainiert, wie sie zu lächeln haben, dass sie die Arme nicht vor der Brust verschränken dürfen oder dass sie mit der Faust energisch auf das Rednerpult schlagen müssen, um entschlossen zu wirken, erreicht man in den allermeisten Fällen das Gegenteil von dem, was man beabsichtigt hat. Der Mensch wirkt unecht, die Körpersprache automatenhaft.“ Wie auch soll dies funktionieren: Der Verstand trifft die Entscheidung, ein Gefühl zu zeigen, das nicht vorhanden ist und das auch noch der Körper zeigen soll! Aber was soll der Körper zeigen, wo nichts ist? Selbst Schauspieler müssen lernen, sich in die Gefühlslage zu versetzen, die die Spielfigur hat, um diese glaubwürdig darzustellen. Sie spielen dann einen Abend lang und sind nach der Vorstellung erschöpft.
So kommt es, dass wir Masken anderer Menschen erkennen, hinter der sie sich verstecken wollen. Würde deren Verstand tatsächlich die Reaktionen von Gesicht und Körper ausführen wollen, wäre der kleine Arbeitsspeicher des Verstandes hoffnungslos überfordert. Nur in der Einheit von Verstand, Gefühl und Körper bewegen sich die vielen Gesichts- und Körpermuskeln so, dass wir einen stimmigen Gesamteindruck von den Gefühlen der Person haben. Die Hirnforschung zeigt, wie die Handlungsabsicht, die dazugehörigen Gefühlslagen und Denkstile sowie der passende Körperausdruck zu ein und demselben neuronalen Netzwerk gehören. Storch: „Nur dann, wenn dieser Vorgang selbst gestaltet wurde, existiert ein echt individuelles neuronales Netzwerk, denn es wurde an persönliche, bereits vorhandene Gedächtnisinhalte gekoppelt. Und nur dann wirkt das neue Handeln authentisch und nicht antrainiert.“ Gekünstelte Gesten nehmen wir schnell und unbewusst wahr. Schon eine Gegenfrage oder Unvorhergesehenes wirft unser Gegenüber aus der Bahn. Fazit: Langfristiges Verstellen bringt nichts.
Wer uns also etwas vorspielt, muss sich ständig überlegen, wie er uns gegenüber gemäß seiner Rolle handeln sollte, zum Beispiel als Führungskraft. Dies kostet diesen Menschen enorm viel Energie! Im Lauf der Jahre muss dieser so viel Energie aufwenden, um seine Fassade aufrecht zu erhalten, dass ihm diese Energie für andere Zwecke fehlen, zum Beispiel für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Abends kommen solche Menschen müde nach Hause, sie haben oft keine Energie mehr, ins Theater oder zum Sport zu gehen. Schlimmer noch: Fehlende Energie kann den Menschen krank machen, weil der Körper sich nicht regenerieren kann, sondern die Energie benötigt, um sich gedanklich auf das Theater am nächsten Tag vorzubereiten.
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