Was ist das Besondere am Digital Brand Storytelling?
Schon seit Jahren diskutieren Wissenschaftler und Praktiker über die Besonderheiten von digitalen Medien und digitalen Technologien.
Interaktivität kennzeichnet digitale Medien
Viele sehen in der Interaktivität von digitalen Medien und digitalen Technologien den wesentlichen Unterschied zu traditionellen Erzählweisen: „Interactivity repeatedly cited as the feature of digital media that most clearly distinguishes it from older, nondigital genres.“ (Ryan, 2004, 2006; Aarseth. 1997; Alexander, 2011)
Meist zwei Formen von Interaktivität
Die meisten Autoren unterscheiden zwei Formen von Interaktionen: Mensch-Maschine-Interaktion und Mensch-Mensch-Interaktion
- Maschine-Maschine-Interaktion: Bei der Diskussion von Integration und Vernetzung ist deutlich geworden, dass sich die Bausteine wie Geräte, Technologien etc. aufgrund von Standards austauschen können. Sie kommunizieren untereinander, auch wenn der Nutzer diese Interaktion auslöst.
- Mensch-Maschine-Interaktion: Der Nutzer bestimmt Art, Inhalt, Zeitpunkt, Dauer, Folge und Häufigkeit seines Informationsabrufs weitgehend selbst. Die Markengeschichten kann er seinen Interessen, Wünschen und Bedürfnissen anpassen, indem er Bausteine auswählt (Geräte, Technologien, Dienste, Medienobjekte etc.). Zur technischen Interaktivität gehört z. B. ein „Schieberegler“, den der Nutzer selbsttätig bedienen und damit die Geschwindigkeit steuern und beliebige Stellen in einem Video wählen kann. Drei weitere Beispiele für Mensch-Maschine-Interaktionen sind (vgl. Simon, 2013):
Beispiele für Mensch-Maschine-Interaktion
- Kurztextgalerie: Der Nutzer klickt sich ähnlich einer Bildergalerie von einem kurzen Textbaustein zum nächsten.
- Slideshow mit Audio-Elementen: Sie läuft wie ein Video in einem Player ab und erzählt Geschichten in Bildern, wird aber zusätzlich mit O-Tönen von Protagonisten, passenden Geräuschen oder Musik unterlegt. Manchmal enthält sie auch Video-Elemente, seltener Schrifttext oder Grafiken.
- 360-Grad-Panorama/3D-Foto: Der Nutzer kann die Perspektive und den Zoom manuell verändern und durch die Panoramabilder navigieren.
Digital Brand Storytelling verlangt demnach nach einem sehr aktiven Nutzer, während klassisches Storytelling aus einem aktiven Erzähler und einem passiven Zuhörer besteht. Der Nutzer im Digital Brand Storytelling muss nicht warten, bis etwas passiert, sondern er kann etwas passieren lassen. Ein Beispiel wäre ein virtueller Rundgang durch das Markenunternehmen als Geschichte: Der Besucher der Website könnte eine Rolle wählen, z. B. Kunde, Journalist, Bewerber, Investor; dann bestimmt er die Bühne, z. B. Forschung und Entwicklung, Produktion oder Verwaltung. Er könnte auch weitere Handelnde wählen, also Forscher, Entwickler, Produktionsmitarbeiter oder Produktmanager.
Digital Brand Storytelling sollte also den Nutzer ständig einbeziehen und Markengeschichten zum Handeln und nicht nur zum Lesen bieten. Inhalte, bei denen sich der Nutzer zurücklehnen kann (z. B. ein Video), können abwechseln mit Inhalten, bei denen der Nutzer aktiv seine Rezeption steuern muss (z. B. eine interaktive Grafik mit mehreren Ebenen). Mehr noch: Der Nutzer kann sogar die Inhalte der Geschichte beeinflussen (dies wird im Folgenden erläutert). Interaktivität im Digital Brand Storytelling kann bedeuten, dass der Computer vom User lernt und die Geschichte auf ihn abstimmt. Möglich ist durch Entwicklungen in der Spieleindustrie schon heute, Reaktionen der Nutzer in Mimik und Gestik zu registrieren und die Geschichte darauf auszurichten.
- Mensch-Mensch-Interaktion: Dies umfasst jeglichen Austausch zwischen Menschen (vgl. Herbst, 2004). Persönliche Interaktion ermöglicht den Markenvertretern, eine persönliche Beziehung zu wichtigen Bezugsgruppen aufzubauen. Dies ist für das Entstehen von Vertrauen essenziell und lädt die Marke emotional auf. Im Digital Brand Storytelling können Nutzer gemeinsam Geschichten entwickeln, teilen und kommentieren.
- Mensch-Inhalt-Interaktion: Der Nutzer kann im Digital Brand Storytelling die Markengeschichen beeinflussen: Er kann in die Handlung eingreifen und die Geschichte nach seinen individuellen Wünschen gestalten – nichts anderes geschieht in Videospielen. Die Frage lautet also: Sucht sich der Nutzer seine Geschichte aus (Mensch-Maschine-Interaktion) oder erzählt er sie selbst (Mensch-Inhalt-Interaktion)?.Ein frühes Beispiel für die Einbeziehung von Internetnutzern liefert der Comic-Theoretiker Scott McCloud: In seinem Online-Comic-Projekt „Die Carl-Geschichte“ stellte er auf einer Website zwei Comicbilder nebeneinander: Das erste Bild zeigt Carl, der seiner Mutter verspricht, dass er nüchtern mit dem Auto fahren und garantiert keinen Alkohol trinken wird. Das zweite Bild zeigt einen Grabstein mit der Aufschrift „R.I.P. Carl“. McCloud ermunterte auf seiner Website, Vorschläge für die Geschichte zu senden. Bis 2001 beteiligten sich weit über 1.000 User . Im Ergebnis wurde daraus eine Art Comicwand, auf der die Geschichten von Carl in Dutzenden sich kreuzenden Pfaden und in hunderten Bildern versammelt sind. Diese Geschichte gilt als ein frühes Dokument des kollaborativen Erzählens im Web (ausführlicher in McCloud, 2011).
Beispiel Fanfiction
Eine weitere Entwicklung der Beteiligung ist die „Fanfiction“ (vgl. Hellekson und Busse, 2006). Dieser Begriff bezeichnet Beiträge, die von Fans eines Films, einer Fernsehserie, von Büchern, Computerspielen usw. erstellt werden, welche die Protagonisten und/oder die Welt dieses Werkes bzw. die jeweiligen Personen in einer neuen, fortgeführten oder alternativen Handlung darstellen. Bekanntestes Beispiel ist die Harry Potter Fanfiction.[2] Wie könnte der Nutzer die Geschichte beeinflussen? Der Beginn einer Geschichte kann vorgegeben sein. Die Nutzer könnten sie ergänzen und sogar weitererzählen. Die beiden erzählerischen Pole im Digital Brand Storytelling befinden sich auf Seite der Unternehmen oder der Nutzer.
Zwei Formen der inhaltlichen Interaktivität
Crawford (2012) und Ryan (2006) unterscheiden zwei Formen der inhaltlichen Interaktivität: „Exploratory versus Ontological Interactivity“ und die „Internal versus External Interactivity“.
- Ontological Interactivity: Der Nutzer kann die Markengeschichte beeinflussen
- Exploratory Interactivity: Der Nutzer kann die Markengeschichte nicht beeinflussen.
- Internal Interactivity: Der Nutzer spielt in der Geschichte selbst mit, z. B. durch einen Avatar.
- External Interactivity: Der Nutzer bewegt sich außerhalb der virtuellen Welt, zum Beispiel indem er die Datenbank navigiert oder die Geschicke der Geschichte lenkt.
Praxiserfahrungen zeigen, dass das Generieren von Inhalten durch Nutzer (User Generated Content) kein Selbstzweck sein darf (vgl. z.B. Glassner, 2004, Crawford, 2012). Es sollte für den Nutzer emotional belohnend sein, sich an der Geschichte zu beteiligen. Die Inhalte sollten zur Handlung beitragen. Dies können z. B. eigene Erfahrungen und eigene Geschichten mit der Marke sein. [1] Zum Beispiel Sturm (2013): „Grundsätzlich seien aber zunächst zwei Bedeutungen von Interaktivität zu unterscheiden: die technische Interaktivität zwischen Mensch und Computer und die soziale Interaktivität, die sich zwischen zwei oder mehreren Menschen ereignet.“ ( vgl. z.B. auch Meier, 2002, 2007) [2] Für einen Überblick über kollaborativ erstellte Texte und Geschichten siehe Rettberg (2011). [3] Auch andere Autoren beschreiben dieses Phänomen: Green und Brock (2000) sprechen von „Transportierung“: „Transportierung“ bezeichnet das Ausmaß, in dem sich ein Individuum in eine Geschichte hineinversetzt und sich in ihren Strukturen und in ihren Inhalten „verliert“ (Vgl. Davis, 1983, S. 114; Green und Brock, 2000, S. 701). Es handelt sich um einen Zustand, der – ähnlich wie andere kognitive Zustände – in einer mehr oder weniger starken Intensität empfunden werden kann: Je intensiver sich Individuen in die Inhalte einer Erzählung hineinversetzen, desto größer ist das Ausmaß der „Transportierung“ (vgl. Green und Brock, 2000, S. 701 ff.). [4] Ein anschauliches Beispiel von Glassner (2004): Was geschieht, wenn ein Nutzer über einen Konflikt entscheidet? Er würde womöglich den Feind/Bösewicht beseitigen, doch dann würde die Geschichte an Spannung verlieren. [5] Zum Beispiel weist Glassner (2004) auf Erfahrungen im Gaming hin, die zeigen, dass sich solche Spielhandlungen nicht breit durchgesetzt haben.
[…] Es gibt drei Formen von Interaktivität. […]