Storytelling: Was ist eigentlich neu? Viele fragen mich, was das Neue an Storytelling sei? Meine Antwort lautet dann:
1. Grundsätzlich ist das erzählen von Geschichten uralt. Es steckt tief in uns drin. Jeder kann Geschichten erzählen und wir tun dies täglich.
2. Neu ist, dass auch die Wirtschaft und speziell die Kommunikationsbranche die Potenziale dieser Urform der Kommunikation wiederentdeckt.
Auszug aus meinem Buch Storytelling, das in der 3. Auflage im UVK Verlag Konstanz erschienen ist:
Storytelling so alt wie die Sprache
Das Erzählen von Geschichten scheint so alt wie die Sprache selbst. Sprache hat die Aufgabe, sich mit anderen Menschen darüber zu verständigen, wie wir Gefahren vermeiden können und wie wir zu Wohlbefinden gelangen. Daher erzählen wir Erlebtes und Erwartetes oft als Geschichten.
Geschichten finden wir als Mythos, als Legende, als Novelle; wir finden sie im Film, im Comic, im Lokalteil der Zeitung und im Gespräch. Geschichten gibt es in unendlichen Formen, zu allen Zeiten, an allen Orten und in allen Gesellschaften. »Die Erzählung … ist international, transhistorisch, transkulturell und damit einfach da, so wie das Leben.« (Barthes, 1988: 102).
Werfen wir einen Blick in die Chronik von Geschichten. Schauen wir uns Beispiele dafür an, wie sich Menschen schon seit jeher über Geschichten verständigen, wie Geschichten uns Menschen darüber orientieren, was erlaubt ist und was verboten. Lassen Sie uns sehen, warum wir Geschichten so sehr lieben, wie sie uns fesseln und unser Leben bereichern. Dieser kleine Gang wird Sie mit Eigenschaften und Bestandteilen von Geschichten bekannt machen, die Sie brauchen, um ihre eigenen Geschichten in den PR zu erzählen.
Geschichten vor unserer Zeitrechnung
Bereits vor tausenden von Jahren haben Menschen Geschichten an nachfolgende Generationen überliefert: Geschichten vom Jagen, vom Gemeinschaftsleben und jenen Erfahrungen, die vor Gefahren geschützt und das Leben erleichtert haben. Geschichten transportieren, was sich in einer Kultur bewährt hat. Erste Zeugnisse liefern Höhlenbilder, wie die 28.000 Jahre alten Steinzeitgravuren von Frauen, Tieren und Ungeheuern im französischen Cussac in der Dordogne. Die noch heute erhaltenen Zeichnungen und Gravuren erzählen Lebens- und Jagdgeschichten und geben uns aus erster Hand einen Eindruck, wie es in der Zeit unserer Vorfahren ausgesehen hat.
Göttergeschichten und Mythen
Spätere Überlieferungen sind Göttergeschichten und epische Erzählungen der altgriechischen und römischen Mythologien. Der Begriff Mythos entstammt der griechischen Sprache und bezeichnet Geschichte, Erzählung. Mythen sind Produkt volkstümlicher Überlieferungen von tiefgründigen Wahrheiten aus dem übermenschlichen und menschlichen Dasein. Sie erzählen über die Erschaffung der Welt, sie erzählen von Zerstörung und Erneuerung und dem Kampf von Gut gegen Böse (Brandt, 2004; Campbell, 1999).
Mythen greifen mitunter die Abstammung von Herrschergeschlechtern auf, um deren Führungsanspruch zu legitimieren. Sie enthalten Geschichten über Götterfamilien, um Wir-Gefühl von Stämmen zu erzeugen. Mythen erzählen, wer in der Götterwelt herrscht, welche Beziehungen die Götter untereinander, aber auch mit den Menschen haben. Göttergeschichten faszinieren uns, weil sie über das Mögliche und Machbare hinausgehen: Götter erscheinen unberechenbar und grausam, sie erschaffen Wunderbares, aber zerstören auch Erschaffenes.
Noch heute spüren wir die Kraft der Mythen aus der griechischen Götterwelt: Sie beschreiben Phänomene wie den Ödipus-Komplex und die Apokalypse; sie sind Namensgeber für Unternehmen wie im Fall von Hermes, Götterbote und Schutzgott der Wege, Wanderer und Kaufleute. Die Irrfahrten des Odysseus sind Ursprung des Begriffes »Odyssee« als Synonym für lange Irrfahrten.
Das Werk von Homer beschreibt die Abenteuer des griechischen Königs von Ithaka und Seefahrers Odysseus aus dem Trojanischen Krieg. Auf seiner 20jährigen Heimreise mussten Odysseus und seine Gefährten dem betörenden, jedoch todbringenden Gesang der Sirenen widerstehen und trotz Zyklopen, Nymphen und Zauberinnen auf ihrem Weg bleiben. Bis in unsere Tage finden wir dieses Erzählmuster vom Helden, der auszieht, um Widrigkeiten zu bestehen, der Versuchungen standhalten muss und der erfolgreich in seine Heimat zurückkehrt.
Eine weitere frühe Form erzählender Literatur ist das Epos, altgriechisch für »Vers«, das ausführlich von bedeutenden historischen Ereignissen erzählt – in »epischer Breite und Länge«. Bekannt ist das Gilgamesch-Epos, das von den Heldentaten des sumerischen Königs berichtet, der die Unsterblichkeit sucht. Das Besondere: Gilgamesch war zu zwei Dritteln göttlich, zu einem Drittel menschlich. Aus elf erhaltenen Tafeln erfahren wir von seiner Freundschaft zu dem menschenähnlichen Wesen Enkidu, seinen Kämpfen und Siegen gegen Ungeheuer, dem Verlust seines Weggefährten und der langen Reise zur Entschlüsselung des Lebens.
Die Bibel
Der Entschlüsselung des Lebens und dem Traum der Unsterblichkeit widmet sich auch das »Buch der Bücher«: die Bibel, eine Sammlung von Einzelschriften. Der Begriff entstammt dem griechischen Wort biblia für Bücher. Wie ein Geschichtsbuch beschreibt die Bibel in der Schöpfungsgeschichte die Entstehung unserer Welt. Sie erzählt die Leidensgeschichte des Volkes Israel und seiner Verbindung zu Gott. Wir lernen das Leben von Jesus Christus kennen, der durch seine Person die Liebe und das Wort Gottes verkörpert, der mit seinem Sterben die Schuld der Menschheit stellvertretend auf sich nimmt, und der durch seine Auferstehung für immerwährende Hoffnung steht.
Die Bibel will die Gemeinschaft fördern durch Regeln für den Umgang miteinander, wie im Fall der Gebote »Liebe deinen Nächsten!« und »Du sollst nicht töten!«. Diese Regeln gehen über Grenzen hinaus, wie beispielsweise auch das Gleichnis, nach dem vor Gott alle Menschen gleich sind. Viele Menschen suchen in der Bibel Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und der rechten Lebensführung. Sie wirkt Entfremdung und Vereinsamung entgegen, indem sie Gläubigen vermittelt, von Gott wahrgenommen und angenommen zu sein – Jesus hat die Sünderin Maria Magdalena nicht verstoßen, sondern als Teil der Glaubensgemeinschaft angenommen.
Die Bibel zeigt eine Wirkung von Geschichten, die auch heute noch sehr wichtig ist: die Orientierung. Geschichten zeigen, was das Denken und Handeln von Menschen leitet und wie Gemeinschaften entstehen und bestehen können. Dies macht Geschichten bedeutend für den Erzähler und den Zuhörer. Zur Wirkung der Bibel und von Geschichten allgemein gehört das Entstehen von inneren Vorstellungsbildern, die wir vor allem unbewusst speichern und auf die wir schnell und leicht zugreifen können, wenn wir entscheiden oder handeln sollen.
Sagen und Legenden
Auch Sagen enthalten viele Aussagen über Glauben und Werte. Sagen sind meist kurze Erzählungen fantastischer Ereignisse, die auf historisch belegtem Hintergrund basieren können, doch im Lauf der Geschichte durch mündliches Weitergeben umgestaltet und ausgeschmückt wurden. Das Geschehen beeinflussen Zauberer, Elfen, Zwerge und Riesen und sogar vermenschlichte Pflanzen und Tiere.
Eine der klassischen alten Sagen ist die von König Artus und seiner Tafelrunde: Sie erzählt von Macht und Gerechtigkeit durch das Schwert Excalibur, das nur der rechtmäßige König aus dem Stein ziehen kann. Es geht um Liebe und Verrat durch das Verhältnis von Artus’ Gemahlin Guinevere mit dessen Vertrauten Lancelot. Die Geschichte spannt den Bogen bis ins Übersinnliche durch die Figur des Zauberers Merlin, der den Untergang des Königreiches und der Tafelrunde vorhersagt sowie die Suche des Ritters Parzival nach dem heiligen Gral. Es gibt unzählige Versionen dieser Sage und viele Abhandlungen darüber, welche Elemente daraus auf wahren Begebenheiten beruhen.
Eng mit Sagen verbunden sind Legenden, die das Leben (und Leiden) von Heiligen beschreiben und von den Taten außergewöhnlicher Menschen berichten. Die Geschichten sind mitunter historisch belegt, mitunter ausgeschmückt und bar historischer Fakten. Auf Tatsachen stützen kann sich die Geschichte über Manfred Freiherr von Richthofen, bekannt als der »Rote Baron«, der durch 80 Abschlüsse gegnerischer Flugzeuge im ersten Weltkrieg zur Legende wurde.
Die moderne Form der Legende sind die »Urban Legends«, die weiter tragen, was ein guter Freund berichtet, das dieser wiederum von einem engen Bekannten gehört hat. Die Quelle bleibt letztlich unklar, doch die Geschichten sind fantastisch und faszinierend wie die der Spinne in der Yucca-Palme und dem Krokodil im Abwassersystem von New York (Brednich, 1999). Solche Geschichten greifen sogar seriöse und renommierte Blätter auf wie die Times und der Guardian: Sie veröffentlichten die Geschichte von George Turklebaum, der fünf Tage lang tot an seinem Schreibtisch gesessen haben soll, ohne dass dies seinen Kollegen auffiel.
Märchen und Fabeln
»Es war einmal …« – fantastische Erzählungen enthalten auch Märchen und Fabeln. Der Begriff Märchen entstammt dem mittelhochdeutschen Wort Maere, was Kunde, Bericht oder Nachricht bedeutet. Märchen finden sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen der Welt. Im deutschsprachigen Raum haben vor allem die Brüder Grimm den Märchenbegriff geprägt (vgl. z.B. Brednich u.a., 1977; Freund, 2005; Lange, 2005).
Die Inhalte von Märchen sind frei erfunden. Sie beschreiben fabelhafte Begegnungen zwischen sprechenden Tieren und Menschen, wie bei dem gestiefelten Kater. Viele dieser Märchen scheinen für Kinder recht brutal: Eltern verstoßen ihre Kinder oder Erwachsene üben ihnen gegenüber Gewalt aus. Doch meist gehen die Geschichten glücklich aus, wie im Beispiel von Hänsel und Gretel: Die Eltern haben das Geschwisterpaar verstoßen. Sie laufen durch den Wald und geraten an die böse Hexe, die sie essen will, aber sie entkommen durch Schlauheit und List.
Viele erfolgreiche Künstler haben sich von Märchen inspirieren lassen, wie der Autor und Zeichner Walter Moers, der seine Märchenparodie Ensel und Krete nannte. Die Zeichentrickgeschichte über den Oger Shrek bedient sich sämtlicher Märchenfiguren, aber auch der Storyelemente und Gestaltungsstile moderner Filme. Wie das Management Märchen nutzen kann, zeigt Rolf Wunderer (2008) in seinem Buch »›Der gestiefelte Kater‹ als Unternehmer. Lehren aus Management und Märchen«.
Scheherazade ist ein Beispiel, wie sehr Märchen die Zuhörer durch Erwartungen fesseln können: Scheherazade ist eine Hauptfigur der altpersischen Märchensammlung von Tausendundeiner Nacht. Scheherazade willigt der Heirat mit dem König ein, der nach der Untreue seiner ersten Gemahlin jede Neuangetraute nach der ersten Nacht hinrichten lässt, um nie wieder betrogen zu werden. Um dem tödlichen Schicksal zu entkommen erzählt Scheherazade ihrem Gemahl jeden Abend eine Geschichte, dessen Ende sie offen lässt und verspricht, sie am nächsten Abend weiterzuerzählen. Der König ist neugierig auf das Ende der Geschichte und verschiebt die Hinrichtung. 1001 Nacht vergehen. Am Ende gibt er seine Mordabsichten auf, überzeugt von der Klugheit und Treue seiner Frau.
Den Wunsch, das Ende einer interessanten Geschichte hören zu wollen, nutzten auch die Meddah, das waren mimische Erzählkünstler der türkisch-orientalischen Tradition. Sie zogen von Stadt zu Stadt, von Kaffeehaus zu Kaffeehaus, um ihre Geschichten öffentlich zu verbreiten und so ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Bendixen (2001: 120) schreibt: »Manchmal blieben sie Monate und fesselten das meist gleich bleibende Publikum täglich aufs Neue, oft nur kurze Zeit. In gekonnter Manier versuchten sie ihr Publikum mit Geschichten zu fesseln, die sie an ihren Höhepunkten unterbrachen, um sie erst zu Ende zu erzählen, nachdem die Zuhörer (und Zuschauer) eine meist bescheidene Geldspende zu geben bereit waren.«
Bendixen sieht hierin schon ein Kernelemente der Wirtschaft (2001: 120f): »Den Kunden Proben zu geben, um ihnen einen Vorgeschmack auf die Freunden zu geben, das Ganze zu besitzen oder zu erleben, ist gängige akquisitorische Praxis in allen Bereichen der marktförmig regulierten Wirtschaft.«.
Eng verbunden mit Märchen ist die Form der Fabel. Eine Fabel zeichnet sich dadurch aus, dass Tiere aber auch Pflanzen oder Fantasiewesen menschliche Eigenschaften besitzen: Das Kaninchen ist vorlaut und frech, der Esel störrisch und faul. Die Werbeindustrie hat sich Fabelwesen als Vorbild für Maskottchen genommen: der schlaue Fuchs wirbt seit Jahren erfolgreich für den Bausparer Schwäbisch Hall.
Wichtiges Element in Geschichten ist der Wandel: Was einst hässlich, ungeliebt und einsam war, wird schön, begehrt und beliebt – das hässliche Entlein wird zum stolzen Schwan, Aschenputtel wird mit Hilfe einer guten Fee zur Prinzessin, die den Prinzen erobert. Geschichten nähren den Glauben an Gerechtigkeit wie bei dem Geächteten Robin Hood, der die Reichen im Sherwood Forrest ausraubt und das Erbeutete den Armen gibt. Das Element des Wandels finden wir auch heute noch als Kernelement in guten Geschichten.
Geschichten machen auf bestehende soziale Umstände aufmerksam und regen zum Denken und Handeln an. Beispiel ist Oliver Twist von Charles Dickens: Der junge Oliver kommt nach dem Tod seiner Mutter zuerst in ein Armenhaus und wird dann als Lehrling an einen Leichenbestatter verkauft. Nach seiner Flucht landet er bei einem Kriminellen, der ihn zu einem Dieb ausbildet. Das Buch bewirkte bei seinem Erscheinen ein Umdenken in der Bevölkerung und regte eine öffentliche Debatte über das Armengesetz an.
Geschichten können erzieherisch wirken, wie das Kinderbuch Struwwelpeter des Frankfurter Arztes Dr. Heinrich Hoffmann zeigt: Die reich bebilderten Geschichten handeln davon, was Kindern widerfährt, die nicht brav sind und sich nicht an die Ge- und Verbote ihrer Eltern halten: Paulinchen spielt trotz Verbot mit Streichhölzern und brennt lichterloh; der fliegende Robert geht, gegen das Verbot seiner Eltern, bei Sturm aus dem Haus und wird mit seinem Regenschirm vom Wind weggetragen. Figuren wie Zappelphilipp, Suppenkaspar und Hans-Guck-in-die-Luft sind in unsere Umgangssprache eingeflossen. Anhand solcher Geschichten lernen wir – vor allem unbewusst – die Ratschläge und Gebote von Autoritätspersonen zu beachten. Modelle wie der Transaktionsanlyse greifen dies auf.
Geschichten können die Phantasie anregen wie die Geschichten des Zauberlehrlings Harry Potter, der mit seinen Abenteuern Menschen jeden Alters fesselt und Kinder dazu bringt, wieder Bücher zu lesen – ja sogar Englisch zu lernen, damit sie nicht noch länger warten müssen, bis die neue Ausgabe übersetzt ist. Die Vorbestellungen erreichten Millionenhöhe, in langen Schlangen warteten die Leser vor den Buchhandlungen, die extra zur Geisterstunde um 0.00 Uhr geöffnet hatten um deren Lesehunger zu befriedigen (Bürvenich, 2001).
Heutiger Einsatz von Geschichten
Geschichten finden wir heutzutage allerorten: in der Popmusik, in Comics, in Videoclips, im Kino, in der Musik, in Tanz und Theater und sogar in der Psychotherapie (Kast, 2006). Hier einige Beispiele für den Einsatz von Geschichten mit engem Bezug zu PR:
Geschichten im Journalismus
Journalisten denken stark in Geschichten: Ist Ihnen dies nicht auch schon passiert: Nachdem Sie einem Journalisten die neuesten Informationen aus Ihrem Unternehmen mitgeteilt haben, fragt er Sie: »Was ist die Story hinter diesen Informationen?« Fog und andere (2004: 197) schreiben: »the media feed on and live off of good stories«. Ein Blick auf die Überschriften in einer beliebigen Tageszeitung lässt die Geschichte hinter dem Artikel erahnen. Zum Beispiel titelt die Welt am Sonntag am 16. März 2008 über den neuen Metro-Chef Eckhard Cordes: »Der Doppelchef. Haniel und Metro: Gleich zwei Konzerne mischt Eckhard Cordes als Vorstandsvorsitzender auf. Am Ende wird wohl nur einer übrig bleiben.« Einer kam durch – welch eine Geschichte!
Politikjournalisten erzählen die Geschichte von Opfer, Täter und Retter: Opfer ist meist der »kleine« Bürger, mit dem wir uns identifizieren können. Täter ist ein mächtiges Unternehmen, große Behörden und machtbesessene Politiker. Jetzt kommt der Retter ins Spiel: der Journalist. Er deckt auf, hinterfragt, bleibt am Ball und hilft den Opfern. Nach diesem Muster verlaufen fast alle Beiträge in Magazinen wie Report, Panorama, Frontal21. Das Muster dieser Geschichten, das wir unbewusst erfassen, ist immer gleich – was sich ändert ist der Inhalt.
Medizinjournalisten zeigen in Ratgebersendungen, welche Krankheiten und Bedrohungen für unsere Gesundheit bestehen. Sie zeigen auf, welche Alternativen es gibt, sie befragen hierzu Experten. Sie schlagen Lösungen vor, mit denen wir unsere Gesundheit erhalten und uns sicher fühlen können. Dieses Beispiel zeigt die Grundelemente von Handlungen in Geschichten: Es gibt einen Konflikt, mehrere Alternativen stehen zur Wahl und es gibt eine – hoffentlich gute – Lösung, also ein »Happy End«.
Im Wissenschaftsjournalismus scheinen Forscher ihre Studienergebnisse möglichst kompliziert durch Text und Bild vermitteln zu wollen – je unfassbarer und abstrakter, desto wohler scheint ihnen zu sein, weil dies angeblich ihren Expertenstatus unterstreicht. Neuerdings fordern Theoretiker und Praktiker des Wissenschaftsjournalismus genau das Gegenteil, nämlich erzählenden (narrativen) Journalismus. Hierunter verstehen sie, dem Leser, Hörer oder Zuschauer »ein absolut klares und plastisches Bild davon zu servieren, wie eine neue Technologie funktioniert und wie ein Forschungsergebnis zu verstehen ist, welche Vorzüge ihnen zugeschrieben werden und welche Nachteile daraus entspringen könnten.« (Goede, 2005: 4).
Ein Musterbeispiel hierfür ist Wolfgang Heckl, Physikprofessor an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität und seit Oktober 2004 der neue Generaldirektor des Deutschen Museums: Heckl vermittelt die Nanotechnologie einem breiten Publikum so anschaulich und spannend, dass er hierfür schon zwei Preise gewonnen hat. »Nicht belehren, Fakten und Schaubilder präsentieren, sondern Erlebnisse erzählen und vermitteln, das verlange Heckl von seinen Berufskollegen. Nur so könne man Menschen für die Forschung begeistern.« (Goede, 2005: 5).
Zum Beispiel lässt er einen Film eine kleine Geschichte über die Nanotechnologie erzählen: Aus einzelnen Kohlenstoffatomen hat sein Institut einen Ball, Tore und ein Bein zusammengesetzt, mit denen ein Nanofußballspiel inszeniert wird. »Faszinierend, fand das Publikum«, berichtet Goede von einer Veranstaltung mit Heckl (Goede, 2005: 5).
Zwei weitere Beispiele für Geschichten im Journalismus: Das Nachrichtenmagazin Spiegel berichtet in Ausgabe 20 vom 17. Mai 1999 über die IDS Scheer und den beispiellosen Aufstieg des Firmengründers August-Wilhelm Scheer als »American Dream«. Der Beitrag erzählt, wie Scheer 1984 als Vollblutwissenschaftler das Unternehmen gründete und dann zum internationalen Erfolg führt. Scheer mache vor, wie auch in Deutschland aus der Forschung ein wachstumsstarkes Unternehmen entstehen und im IT-Markt international erfolgreich sein könne. Der Professor habe sich zum Vorzeigeunternehmer entwickelt und seine Firma zum zweitgrößten deutschen Anbieter für Unternehmenssoftware.
Die Online-Ausgabe der WELT vom 28. Januar 2007 titelt in einem Beitrag über den damals neuen Chef des Pharmariesen Sanofi-Aventis, Gerard le Fur: »Die Suche nach dem Zaubertrank«: »Sanofi-Aventis-Chef Gérard Le Fur ist einer der wenigen Wissenschaftler, die es bis an die Spitze eines der weltweit führenden Pharmakonzerne geschafft haben. Jetzt erwarten den promovierten Pharmazeuten gleich eine ganze Reihe großer Herausforderungen …«
Michael Haller, Journalistik-Professor in Leipzig, hat die Berichterstattung über die Terroranschläge vom 11. September analysiert (2002). Sein Ergebnis: »In der Mediengesellschaft erzählen uns die Medien Großereignisse nach dem Muster einer Geschichte, die tradierten Dramaturgieregeln folgt – Regeln, nach denen traumatisierende Erlebnisse re-inszeniert, durchlebt und vielleicht auch bewältigt werden. Diese seit der Antike bekannten Muster gehörten früher ausschließlich auf die Bühne des Theaters. Heute erzeugen die Bildschirmmedien ihre eigene Theatralik und inszenieren katastrophische Großereignisse in der Form eines Psychodramas. Dabei folgen sie einer archetypischen Dramaturgie, die von der Exposition in die Polarisierung, weiter zur kathartischen Krise und schließlich zur Auflösung, wenn möglich zum Happyend führt.«
Interessant ist sein Hinweis, dass die Massenmedien dieser Dynamik ausgeliefert sind (Haller, 2002): »… Der Journalismus kann diese Dynamik nicht steuern, er kann sich ihr auch nicht entziehen; sie ist der Medienkommunikation in der offenen Gesellschaft eigentümlich … Aber er hat immerhin die Möglichkeit, den Erwartungen an seine Rolle zu genügen und sie so glaubwürdig auszugestalten, dass das Stück nicht allein der Kurzweil, sondern auch der Orientierung dient.«
Das Kennzeichnen des narrativen, also erzählenden Journalismus sieht Marcus Weber in der Zeitschrift »message« so: »Überspitzt gesagt: Der gute Erzähltext in der Tradition des Narrative Journalism bringt das Humane zum Vorschein, und sei es indirekt durch die Schilderung menschenunwürdiger Vorgänge und Verhältnisse. Die Sprache des Faktenjournalismus ist dagegen Ausdruck einer inhumanen, weil toten Gegenstandswelt.«
Wie Menschen ihrerseits Inszenierungstechniken für die Massenmedien nutzen, beschreiben Bergmann/Pörksen an vielen Beispielen in ihrem Buch »Medienmenschen« (2007)
Geschichten im Wissensmanagement
In den vergangenen Jahren haben Unternehmen das Geschichtenerzählen entdeckt, um Wissen zu bewahren und weiterzugeben (z.B. Thier, 2005). Dahinter steht die Erkenntnis, dass der größte Schatz einer Firma in den Köpfen ihrer Mitarbeiter steckt (»What is left, when people go home?«, zu Deutsch: »Was bleibt, wenn die Mitarbeiter nach Hause gehen?«). Die Erfahrungen der Mitarbeiter und deren Wissen über Abläufe und Zusammenhänge bilden einen Großteil des Wertes eines Unternehmens. Wenn Mitarbeiter die Firma verlassen, geht meist auch deren Wissen für die Firma verloren.
Das Problem für die Erfassung des Wissens und der Erfahrungen besteht darin, dass über 90 Prozent davon unbewusst und durch Befragen nicht zugänglich ist (s. Kap. 2.1). Um auch das unbewusste Wissen erfassen und weitergeben zu können, nutzen Unternehmen Geschichten in ihrem Wissensmanagement: Sie lassen Mitarbeiter authentische Begebenheiten und Anekdoten über das Unternehmen und über besonders gut oder schlecht gelaufene Projekte erzählen. Ergebnis sind wichtige Erkenntnisse über das, was das Denken und Handeln im Unternehmen im Umgang mit Wissen leitet.
Zu den bekanntesten Methoden des Storytelling im Wissensmanagement gehört der »Learning-Histories-Ansatz«, den das Massachusetts Institute of Technology (MIT) Mitte der 1990-er Jahre in den USA entwickelt hat. Diese Methode erfasst anhand von Interviews das Erfahrungswissen von Mitarbeitenden über Fusionen, Reorganisationen oder Pilotprojekte und bereitet diese Informationen als gemeinsame Erfahrungsgeschichte auf. Ziel ist zum einen, die Erfahrungen, Tipps und Tricks zu dokumentieren, und zum anderen, dieses Wissen für das gesamte Unternehmen zugänglich und somit nutzbar zu machen (z.B. Thier, 2005).
Ein Beispiel für den Einsatz von Geschichten im Wissensmanagement liefert Siemens: Die Zentralstelle »Corporate Information Office« will von ausscheidenden Mitarbeitern deren Wissen, Erfahrungen und wichtige Arbeitsmittel sichern und für die Nachfolger sowie das Unternehmen nutzbar machen. Überdies sollen formelle und informelle Netzwerke aufgedeckt und weitergegeben werden. Wissen Sie, wie Siemens das genau macht? Ergebnis: Wenig Wissen geht verloren, die Einarbeitungszeit wird kürzer, die Kosten für die Einarbeitung sinken, Störungen und Brüche in Projekten und Prozessen werden durch bessere Übergabe vermieden.
Geschichten in der Werbung
Villariba gegen Villabajo: Das bedeutet spanisches Lebensgefühl, Gemeinschaft, Essen und Fairy Ultra für den Stolz, sein Geschirr am schnellsten und saubersten zu reinigen: »Und während Villariba schon feiert, wird in Villabajo noch gespült.« Wir lieben jene Marken, die professionell inszeniert sind und Geschichten erzählen – sei es durch Witz, durch Intelligenz oder Ästhetik. Mitunter kaufen wir Marken schon deshalb, weil uns deren Geschichten so gut gefallen. Geschichten in der Werbung dienen dazu, die einzigartige Produktpersönlichkeit (Marke) höchst wirkungsvoll und verhaltenswirksam zu vermitteln: Milky Way ist so leicht, und schwimmt sogar in Milch. Jack Daniels Whiskey ist viele Jahre lang in Fässern gereift. Der Audi Quattro fährt mit seinem Allrad sogar eine Skischanze hoch, so sicher und kraftvoll ist er.
Ziel von Geschichten in der Werbung ist, das klare und einzigartige Vorstellungsbild von der Marke in den Köpfen der Konsumenten aufzubauen (Markenimage) und dauerhaft zu entwickeln. Dieses Vorstellungsbild führt dazu, dass Konsumenten die Marke schnell erkennen, deutlich von anderen unterscheiden und einer anderen vorziehen. Mehr noch: Kunden sind bereit, mehr Geld für die Marke auszugeben als ohne dieses Vorstellungsbild – für Bleiglas von Swarovski das 29fache verglichen mit dem Bleiglas von WMF.
Wie die Werbung Geschichten erzählt, lesen Sie zum Beispiel in Heiser (2001, 2004).
Storytelling in den PR
In den PR spielen Geschichten bisher kaum eine Rolle. Ein Grund dafür scheint zu sein, dass Unternehmen angeblich auf der Grundlage von belegbaren Zahlen und Fakten streng rational geführt und von Gewinnen getrieben sind. Die PR erscheint als Disziplin, die Sachinformationen durch Texte vermittelt, wogegen die Werbung durch Bilder emotionalisiert. Jedoch zeigen die Erkenntnisse der Neurowissenschaften, dass Menschen vor allem unbewusst und emotional handeln. Das Gehirn ist nicht auf das Sammeln von Informationen angelegt, sondern darauf, die Bedeutung von Informationen zu erkennen und hieraus Entscheidungen und Handlungen abzuleiten.
Für das Verständnis von Storytelling und dessen Wirkung ist in den PR daher zuvorderst eine neue Denkhaltung erforderlich: Diese geht davon aus, den internen und externen Bezugsgruppen durch gehirngerechte Kommunikation die beste Wahrnehmung des Unternehmens im Wettbewerb zu ermöglichen. Erst an zweiter Stelle ist Storytelling ein Instrument, das geplant und gezielt eingesetzt wird. Um dies besser zu verstehen, ist es nützlich, die bisherige Denkhaltung in den PR ausführlicher darzustellen, um dann mit einigen Irrtümern, die sich hartnäckig halten, aufzuräumen. Erst durch diese Erkenntnisse wird es Ihnen möglich sein, die Wirkung von Geschichten in den PR angemessen einschätzen zu können.
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