Von Marco Ruckenbrod

„We are, as a species, addicted to story“ – zu dieser Erkenntnis kommt Jonathan Gottschall in seinem inspirierendem Buch The Storytelling Animal. Gottschall bezeichnet den Menschen darin als „Homo fictus“ – oder eben als „storytelling animal“. Ähnlich hält es auch der Erzählforscher Kurt Ranke und spricht vom „Homo narrans“. Diese Bezeichnungen scheinen kaum verwunderlich, handelt es sich beim Menschen schließlich um ein Lebewesen, das seit jeher in Geschichten kommuniziert, denkt und lernt.

Das Erzählen und Hören von Geschichten stellt ein über Jahrtausende erwachsenes und bis heute ungebrochenes Grundbedürfnis des Menschen dar. Seit geraumer Zeit weiß man, dass auch das menschliche Bewusstsein narrativ ist. Denn ein wesentlicher Teil unseres expliziten Langzeitgedächtnisses – also des Bewusstseins – funktioniert auf narrative Weise. Informationen werden dabei räumlich, zeitlich und kausal miteinander verknüpft. Es entstehen kleine Geschichten um unser faktisches Wissen herum. Man spricht vom episodischen Gedächtnis. Die Markenstrategen Frank Otto Dietrich und Ralf Schmidt-Bleeker bringen es pointiert auf den Punkt: „Unsere Welt ist eine narrative.“

Wie stark der Mensch tatsächlich in narrativen Mustern denkt, interpretiert und sich die Welt erklärt, illustriert auf wunderbare Weise das Experiment der US-amerikanischen Psychologen Fritz Heider und Marianne Simmel aus den 1940er Jahren. Heider und Simmel beschäftigten sich intensiv mit Wahrnehmungspsychologie und führten in einem Experiment 114 Probanden einen animierten Kurzfilm von etwa eineinhalb Minuten Länge vor. Objektiv gesehen zeigt der Film drei geometrische Figuren, die sich auf dem Bildschirm hin- und herbewegen. Lediglich 3 der 114 Probanden haben jedoch exakt dies auf die Frage geantwortet, was sie dort sehen: sich bewegende geometrische Figuren. Die übrigen 111 Probanden glaubten hingegen mehr als das zu erkennen: nämlich eine Geschichte zwischen Gut und Böse.

Aus datenschutzrechlichen Gründen benötigt YouTube Ihre Einwilligung um geladen zu werden. Mehr Informationen finden Sie unter Datenschutz.
Akzeptieren

Gut und Böse? Das ist David vs. Goliath, Batman vs. Joker oder James Bond vs. Dr. No. – es dreht sich um Konflikte. Und das ist eine universelle Gesetzmäßigkeit: „No conflict, no story“. Geschichten bestehen also immer aus Konflikten. Sie sind gewissermaßen die Triebfeder der Handlung. Warum aber ist das so? Warum bestehen Geschichten stets aus Konflikten? Konflikte sind keineswegs reiner Selbstzweck. Sie sind Mittel zum Zweck. Denn Konflikte setzen eine Handlung erst in Gang und treiben sie permanent voran. Sie sind das dynamisierende Element von Geschichten. Aber sie sind mehr als das. Denn es sind die Konflikte, die den Menschen indirekt an eine Geschichte binden – indirekt. Denn der Konflikt alleine bindet noch nicht. Den geneigten Zuschauer, Leser oder Hörer
beschäftigt vielmehr die Frage, wie der Konflikt weitergeht. Und schließlich wie der Konflikt ausgeht. Wird der Konflikt gelöst? Wie gehen die Protagonisten mit dem Konflikt um? Wie entwickelt sich die Geschichte? Wie handeln die einzelnen Charaktere? Und genau das ist es, was uns an Geschichten bindet. Und zwar ganz direkt. Es ist Spannung. Kultregisseur Alfred Hitchcock spricht von „suspense“. Seine großartigen Werke wie Der Unsichtbare Dritte, Psycho oder Die Vögel bescherten ihm daher auch den Titel Master of Suspense. Hitchcock wusste ganz genau, wie man Menschen bis zum Schluss fesseln kann. Wie man sie an eine Geschichte bindet. Und zwar durch Spannung.

In den Wissenschaften, die sich mit narrativen Gestaltungs- und Wirkungsmustern beschäftigen, scheint heute weitestgehend Einigkeit darüber zu bestehen, dass jede Geschichte aus mindestens einem (Grund-) Konflikt besteht, dessen alleinige Aufgabe es ist, beim Rezipienten ein Spannungsgefühl auszulösen. Keine Frage, dieses Spannungsgefühl ist in höchstem Maße subjektiv und variiert von Mensch zu Mensch. Deshalb fesselt den einen bereits eine schnulzige Liebesgeschichte, während der andere selbst bei einem packenden Psychothriller immer noch gelangweilt auf die Leinwand starrt. Der Psychologe David E. Berlyne beschrieb bereits in den 1970ern dieses Spannungsempfinden als eine Art Angstlust, die den Rezipienten dazu treibt, in fiktionale Welten einzutauchen.

Uneins sind sich die Experten aus Psychologie und Neurowissenschaften jedoch bis heute, ob eine derartige innere Erregung tatsächlich der Erregung willen oder aber aufgrund des entspannenden Gefühls des Erregungsabfalls erfolgt. Dass es allerdings die Spannung ist, die Menschen an Geschichten bindet, scheint außer Frage. Folgt man dem amerikanischen Drehbuch-Guru Robert McKee, besteht das optimale Ausmaß von Spannung aus zwei Komponenten: der Neugier und der Teilnahme. Dabei handelt es sich um eine kognitive und um eine affektive Komponente der Spannung. Während es bei der Neugier darum geht, den weiteren Handlungsverlauf gedanklich zu antizipieren, meint die Teilnahme vielmehr das emotionale Mitfiebern mit den einzelnen Protagonisten.

Empfinden wir eine Geschichte also als spannend, dann grübeln wir einerseits permanent über den Fortgang der Handlung nach und fühlen andererseits intensiv mit den Charakteren der narrativen Welt mit. Spannung ist also ein hochgradig rational-emotionaler Prozess des Mitdenkens und des Mitfühlens. Der Rezipient ist stimuliert. Er ist aufmerksam und fokussiert. Im besten Fall vergisst er die Umwelt um sich herum. Liest man Kindern eine spannende Geschichte vor, lässt sie einen Märchenfilm anschauen oder einem Hörbuch lauschen, kann man dieses Phänomen gut beobachten. Sie vergessen die reale Welt um sich. Und tauchen stattdessen ein in die narrative Welt. In der Psychologie ist vom „transporting“ oder vom „teleporting“ die Rede. Und genau das ist die Kraft von Geschichten: plötzlich fesseln sie uns und lassen uns eintauchen in eine andere Welt. Wir versinken darin. Die Geschichte bindet uns – jedenfalls temporär – an sich. Der Grund dafür ist Spannung.

Und genau das ist es, was Marketer verstehen und Marken für sich nutzen sollten. Die bindende Kraft von Geschichten. Begreift man eine Marke selbst als Geschichte, die es über all ihre Kontaktpunkte zu erzählen gilt, dann vermag sie das zu schaffen, was Geschichten seit Jahrtausenden gelingt und wovon Markenmanager träumen: eine starke (Marken-) Bindung. Dazu müssen Marken jedoch spannend sein. Sie müssen rational und emotional mitreißen. Sie müssen permanent Fragen aufwerfen, wie es mit ihnen weitergeht und was als nächstes passiert. Und sie brauchen starke, authentische und komplexe Charaktere, die es erlauben, sich ernsthaft mit ihnen identifizieren zu können. Um all das zu erzeugen, brauchen Marken bereits in ihrem Wesenskern echte Konflikte. Konflikte, die die große und übergreifende Markenstory auslösen und diese immer wieder vorantreiben. Solche Marken polarisieren und haben das Potential langfristig spannend zu sein. Und solch spannende Marken werden uns binden – so wie es spannende Geschichten tun. Hierzu muss die Identität von Marken ein Stück weit neu gedacht werden – und zwar über Wertedimensionen, Nutzenversprechen oder Positionierungsräume hinaus. Marken sollten um Konfliktmuster ergänzt werden. Diese Konflikte gilt es aufzuspüren und für die Marke sinnvoll zu kultivieren. Markenmanager denen es gelingt, Konflikte zu erzeugen und die Marke spannend zu inszenieren, können Konsumenten intensiver binden. Deshalb müssen Markenmanager Dramaturgen sein – wenngleich auch kein ein zweiter Hitchcock.

Weiterführender Link: www.narrata.de  mit weiteren Infos über die Masterarbeit von Marco Ruckenbrod